migrantas | eine visuelle Sprache der Migration. Marula Di Como, Florencia Young und Estela Schindel sprachen mit Rosa Reitsamer über die Arbeit von migrantas.
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"Im Stadtraum sichtbar zu machen, was diejenigen denken und fühlen, die ihr eigenes Land verlassen haben und nun in einem neuen Land leben, ist das Ziel von migrantas. Mobilität, Migration und Transkulturalität sind in unserer Welt keine Ausnahme, sondern die Regel. Trotzdem sind Migrantinnen und ihre Erfahrungen für die Mehrheit der Gesellschaft meist unsichtbar. Migrantas thematisiert Migration, Identität und interkulturellen Dialog und bedient sich in seinen Projekten der Werkzeuge der Kunst, des Designs und der Sozialwissenschaften. Die Mitglieder des Kollektivs, überwiegend selbst nach Deutschland eingewandert, konzipieren ihre Arbeit mit anderen Migrantinnen im horizontalen, nicht hierarchischen Dialog." (http://www.migrantas.org/web_migrantas_deutsch.html)
Könnt ihr euch bitte kurz vorstellen?
Marula (M): Mein Name ist Marula Di Como. Ich bin Künstlerin, komme aus Argentinien und lebe seit sieben einhalb Jahren in Berlin. Ich bin verheiratet und habe eine zwölfjährige Tochter.
Florencia (F): Ich heiße Florencia Young, komme auch aus Argentinien und bin Grafikerin. Ich bin mit meiner Familie nach Deutschland gekommen und lebe seit fast acht Jahren in Berlin. 2002 haben Marula und ich mit migrantas angefangen. 2003 haben wir das erste Projekt gemacht, das 2003 und 2004 in Buenos Aires zu sehen war.
Estela (E):Ich bin Estela Schindel. Ich bin auch aus Argentinien und lebe seit 1999 in Berlin. Ich kam als Stipendiatin nach Deutschland, habe in Soziologie promoviert und bin dann geblieben. Ich arbeite freiberuflich an der Uni als Lehrbeauftragte, aber mache auch andere Jobs. Ich bin nach der Gründungsphase zu migrantas gekommen. Das hat mich sehr gefreut, weil ich damals gerade mit meiner Promotion fertig war und ich nach so vielen Jahren der Isolierung auch etwas machen wollte, das eine künstlerische Seite hat. Außerdem sind auch noch Irma Leinauer und Alejandra Lopez bei migrantas.
Könnt ihr erzählen, wie es zu migrantas gekommen ist?
M: Ich habe mit Florencia schon in Argentinien zusammen gearbeitet und wir haben uns in Berlin wieder getroffen. In meiner künstlerischen Arbeit arbeite ich mit Piktogrammen. Ich bin zu Florencia gegangen und habe sie gefragt, ob sie mir mit meinen Zeichnungen helfen kann, die meine Gefühle als Ausländerin in Deutschland thematisieren. Sie meinte ja und dann hat unsere Zusammenarbeit für die Piktogramme begonnen.
F: Wie Marula mit den Zeichnungen angefangen hat... also diese Gefühl, die sie aufgezeichnet und thematisiert hat, hatte ich auch. Deswegen haben wir begonnen, die Piktogramme gemeinsam zu entwickeln, weil es Sachen sind, die bei mir auch vorgekommen sind.
M: Florencia hat ein kleines Buch mit Piktogrammen gemacht und es einer Frau von einem Verein gezeigt. Sie hat gesagt: Das ist okay, aber das ist nicht die ganze Realität, weil den Frauen passiert etwas, das nicht in diesem Buch drinnen ist.
Wir, also Marula und ich, kommen vom Kunst- und Designbereich, aber was passiert im sozialen Bereich? Wie können wir die sozialen Situationen der Frauen thematisieren? Da wir in diesem Bereich nicht arbeiten, aber auch die sozialen Situationen der Frauen thematisieren wollen, haben wir Estela gefragt, ob sie bei migrantas mitarbeiten möchte. Es sind also drei Bereiche, die bei migrantas zusammenwirken: Kunst, Design und Soziologie.
Wie seid ihr zum Feminismus gekommen?
M: schüttelt den Kopf, nein
E: Wenn ich rückfragen darf: Wieso nimmst du migrantas als ein feministisches Projekt wahr?
Rosa: Es geht um die Lebenserfahrungen von Migrantinnen und in euerer Arbeiten, also indem dem Prozessen, wie ihr die Piktogramme entwickelt und was auf den Piktogrammen erkennbar ist, lässt sich für mich eine feministische Herangehensweise erkennen. Im Projekt wird auch eine gewisse Frauensolidarität sichtbar. Das wäre für mich ein weiterer Teil von Feminismus.
E: Die ersten Migrantengruppen, die wir erreicht haben, waren tatsächlich Frauengruppen oder Orte, an denen sich Migrantinnen treffen. Ich weiss nicht, wie weit uns das bewusst war. Aber es stimmt: Es entsteht auch eine gewisse Solidarität, was vielleicht in einer gemischten Gruppe nicht so leicht herzustellen wäre.
Die andere Sache, die ich interessant finde, ist, was beim Zeichnen passiert. Ich war ziemlich erstaunt, dass in den Zeichnungen der Migrantinnen die Ehemänner fast nie vorkommen. Für einige Frauen wäre es vielleicht auch ein bisschen komplizierter die Zeichnungen zu machen, wenn ihre Männer dabei wären. In Gegenwart von Männern würden die Frauen vielleicht auf eine andere Art und Weise ihre Erfahrungen thematisieren. Es ist möglicherweise für die Frauen einfacher, in einer Frauengruppe mitzumachen.
F: Wir bitten die Frauen in den Workshops, dass sie in den Zeichnungen ihre Erfahrungen thematisieren sollen und aus diesen Zeichnungen entwickeln wir Piktogramme. Die Frauen zeichnen sich selbst und danach kommen Gärten, Blumen und Häuser und viele Situationen mit ihren Kindern. Sie können sich selbstverständlich auch mit ihren Männern zeichnen. Das verbieten wir nicht, aber sie tun es nicht.
E: Das, was man an unserer Arbeit als feministisch bezeichnen kann, ist das Empowerment, das bei den Frauen einsetzt. Die Frauen bekommen ein Blatt Papier in die Hand und wir fragen sie nach ihren Geschichten und Erfahrungen. Sie sprechen über das, was sie erleben und erlebt haben. Ihre Erfahrungen werden durch die Piktogramme anders gezeigt und sie können von allen gesehen werden. Wir versuchen, die Worte, die Gefühle und die Erfahrungen der Frauen nach draußen zu bringen.
Die Idee ist also, Migrantinnen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen. Das Projekt besteht nicht darin, eine Botschaft zu vermitteln, sondern wir wollen ihnen ein Werkzeug geben, damit sie das sagen können, was sie wollen.
Wie kommt ihr zu den Frauen, die an den Workshops teilnehmen? Geht ihr in Kulturvereine? Sprecht ihr die Vereine an?
M:Ja, klar. Wir sprechen sie an.
F: Das dauert ziemlich lang und beginnt mit einem ersten Treffen, bei dem wir vorstellen, was wir machen. Dann kommt die Frage, ob sie überhaupt Geld für so ein Projekt bekommen.
E: Wir versuchen gemeinsam mit der Koordinatorin des Vereins herausfinden, wo in der Struktur und im Ablauf des Vereins der Workshop hineinpassen würde. Wir haben diese Workshops auch einige Mal beim Sprachunterricht gemacht, was wir allerdings nicht so toll fanden. Ideal ist eine Gruppe von Frauen, die sich regelmässig trifft und wo auch eine Person vom Verein, eine Vertrauensperson, dabei ist. Wir denken, die Workshops laufen gut, weil wir auch selbst Migrantinnen sind und mit einem Akzent sprechen. Das schafft Horizontalität, auf die wir viel Wert legen. Wir kommen nicht als Lehrerinnen, noch als Koordinatorinnen, sondern als Kollektiv. Wir erzählen auch von unseren Erfahrungen und wir zeichnen auch selbst mit.
Ihr kombiniert Kunst, Design und Soziologie, wodurch migrantas zu einem transdisziplinären Projekt wird. Könnt ihr das bitte ein wenig näher ausführen?
E: Es gibt ein künstlerisches Moment bei der Entstehung der Piktogramme, weil es steckt unglaublich viel Arbeit dahinter, dass die Piktogramme so schlicht aussehen. Das zu erreichen, ist alles andere als einfach.
In den Workshops geht es nicht darum, ob jemand gut oder schlecht malen kann, sondern darum, sich auszudrücken. Das ist das Moment von Empowerment.
Mit dem sozialwissenschaftlichen Ansatz wollen wir erreichen, dass die Erlebnisse der Individuen nicht als isolierte Einzelfälle zu betrachten sind, sondern als Erfahrungen, die in einem politischen und sozialen Raum stehen und als solche zu verstehen sind. Das erlaubt uns, die eigene Geschichte nicht als Einzelfall zu erleben, sondern sie wirklich in einem bestimmten Zusammenhang zu verstehen. Das ist das Konzept, das hinter den Workshops steht. Hinter den Zeichnung, die dann zu Piktogrammen werden, stehen auch politische und soziale Zusammenhänge und nicht nur einzelne Biografien und Schicksale. Wenn man das verstehen kann, dann ist man auch ein bisschen weniger allein. Das ist unsere Idee.
Wenn ich das richtig verstehe, dann geht es bei migrantas einerseits um das Herstellen von Kollektivität, indem erkannt wird, dass andere Migrantinnen gleiche oder sehr ähnliche Erfahrungen machen, andererseits geht es darum, dass die Erfahrungen in einen sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Kontext einbettet werden.
E: Ja, aber es geht auch noch um andere Faktoren und Barrieren. Zum Beispiel, wenn eigentlich alles stimmt und man sich trotzdem in der Gesellschaft nicht angekommen fühlt und wenn man nicht willkommen geheißen wird.
In den Workshops gibt es immer ein sehr interessantes Moment: Am Anfang zeigen wir Bilder von anderen Projekten, wo viele Frauen nicken und sagen: Ja, genau. So geht‘s mir auch und so empfinde ich auch. Ich glaube, das hat auch eine heilende Wirkung. Das hat Pierre Bourdieu einmal sehr schön über seine biographische Methode gesagt: Wenn es gelingt, dass Leute die eigene Biografie in Zusammenhang von Faktoren und Ursachen verstehen, dann kann das so wie eine Therapie wirken. Hoffentlich wirkt es auch so auf Leute, die die migrantas-Ausstellungen und die Plakate mit den Piktogrammen auf der Straße sehen, also dass auch Nicht-Migrant_innen sagen: Oh ja, das kann ich nachvollziehen. Ich denke, das sollte letztendlich auch das Ziel sein.
M: Einige Leute reagieren auf unsere Piktogramme und sie sind keine Migrantinnen. Sie sind Ostdeutsche. Sie können sich mit den Piktogrammen identifizieren. Das heisst, die Piktogramme drücken mehr aus als die Situationen von Migrantinnen.
Wie entstehen die Piktogramme? Die Frauen in den Workshops zeichnen ihre Erfahrungen. Was passiert dann mit den Zeichnungen?
F: Wir bekommen die Zeichnungen, ordnen sie nach Themen und versuchen, konzeptuelle Gemeinsamkeiten zu finden. Eine grosse Arbeit ist dann, eine Synthese zu finden, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und alles andere weglassen, um die Sachen wirkungsvoller zu machen. Dann setzen wir das durch Design in Piktogramme um. Wir überlegen immer, welche Elemente wir in die Piktogramme übernehmen; manchmal übernehmen wir die Zeichnung 1:1 in die Piktogramme, manchmal klappt es nicht, weil wir zu viele Elemente haben und dann müssen einige Elemente raus. Uns wäre es lieber, wenn die Piktogramme keinen Text hätten, aber die meisten brauchen einen Text. Die Piktogramme sollen sehr knapp und präzise sein.
In einem Projekt bekommen wir bei den Workshops etwa zwischen 200 und 270 Zeichnungen und daraus entwickeln wir neun bis zwölf Piktogramme. Beim ersten Projekt, das wir hier in Berlin gemacht haben, hatten wir ungefähr zwanzig Piktogramme, weil am Anfang hatten wir sehr viele Themen. Jetzt kommen teilweise Wiederholungen, weil viele das Gleiche zeichnen, was wir schon in Piktogramme umgesetzt haben. Aber es ist trotzdem unglaublich, wie viele neue Themen immer noch hinzukommen.
Wie sieht die Finanzierung des Projekts aus?
M:Wenn wir es schaffen… (lachen)
E: Das ist sehr schwierig und kompliziert.
F: Die größte Arbeit von migrantas ist unbezahlt, weil bis es überhaupt zu einer Finanzierung kommt, haben wir schon sehr viel Arbeit geleistet. Du brauchst zuerst mal die Bestätigung von einem Verein, dass der Workshop dort stattfinden wird. Danach versuchen wir, Geld aufzutreiben, aber es ist so, dass wir nicht so viel Geld bekommen, wie wir eigentlich brauchen würden, um das Projekt auch im öffentlichen Raum über längere Zeit sichtbar zu machen. Also jeder Cent zählt und wir arbeiten alle zu Hause und parallel zu migrantas machen wie auch andere Sachen, also Design und Grafik.
M: Es gibt ein Projekt, das heisst „Bundesmigrantinnen“ (http://www.migrantas.org/web_migrantas_deutsch.html). Das haben wir zuerst mit einer Kulturstiftung vor Ort in Hamburg gemacht. Viele andere Länder waren eingeladen, nach Hamburg zu kommen und das Projekt anzuschauen, um die Möglichkeiten zu erhalten, es in anderen Städten zu machen. Dann sind Leute von Köln gekommen. Sie wollten das machen und wir haben zusammen gearbeitet. Sie haben das Geld von der Stadt Köln und vom Auswärtigen Amt bekommen.
F: Eines der Probleme bei der Finanzierung ist, dass die Produktion nicht billig ist. Wir produzieren Plakate mit den Piktogrammen. Das ist teuer und der öffentliche Raum, in dem die Plakate hängen sollen, der ist auch sehr teuer. Das sind kommerzielle Preise für Werbetafeln. Das finde ich sehr schade, weil das könnte die Wirkung von unseren Aktionen viel mehr verstärken und größer machen. Wir haben zum Beispiel eine digitale Animation in der U-Bahn gemacht. Das ist auch ein sehr schönes Format. Dafür haben wir einen Rabatt als Sozialprojekt bekommen, aber es waren nicht mehr als zehn bis fünfzehn Sekunden, die wir nutzen konnten.
Bei migrantas geht es also auch viel um Präsenz und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum?
E: Ja, die Fussgänger_innen vervollständigen die Aktion. Die Plakate sollen offen sein und Fragen stellen. Der Zuschauer_innen und Passant_innen soll entscheiden, was sie mit dieser Botschaft weiter machen wollen und wie sie das wahrnehmen wollen.
F: Einige sehen unsere Piktogramme positiv und einige negativ. Wir haben unterschiedliche Piktogramme, zum Beispiel eines, wo unter der Zeichnung steht: Lust auf Deutschlernen. Und dann gibt es eine Zeichnung, wo die deutsche Sprache als ein Berg dargestellt wird. Wir zeigen beides: Einige, die Lust haben, deutsch zu lernen, und einige, die nicht deutsch lernen wollen.
Danke für das Interview.
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Migrantas
Ich habe von diesem Projekt erfahren, weil eine Frau aus unserer Multikulturellen Frauengruppe - http://de.groups.yahoo.com/group/Multikulturelle_Frauengruppe_Koeln-Rhei... - daran teilnahm und finde es sehr gut.
http://de.groups.yahoo.com/group/Multikulturelle_Frauengruppe_Koeln-Rhei...